Der Gerichtshof der Europäischen Union hat laut PRESSEMITTEILUNG Nr. 49/18, Luxemburg vom 17. April 2018, in den verbundenen Rechtssachen C-195/17, C-197/17 bis C 203/17, C-226/17, C-228/17, C-254/17, C-274/17, C-275/17, C-278/17 bis C-286/17 und C-290/17 bis C-292/17 insbesondere in der Sache Helga Krüsemann u. a. ./. TUIfly GmbH ein bemerkenswertes Urteil gefällt, das zu einer Änderung der bisherigen Linie der Rechtsprechung führen dürfte.
Das Urteil betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. 2004, L 46, S. 1.
Der Ausgangsfall: Am 30. September 2016 kündigte das Management der deutschen Fluggesellschaft TUIfly der Belegschaft überraschend Pläne zur Umstrukturierung des Unternehmens an. Diese Ankündigung führte dazu, dass sich das Flugpersonal nach einem von den Arbeitnehmern selbst verbreiteten Aufruf während etwa einer Woche krank meldete. Zwischen dem 1. und dem 10. Oktober 2016 stieg die Quote krankheitsbedingter Abwesenheiten, die normalerweise bei etwa 10 % lag, auf bis zu 89 % des Cockpit-Personals und bis zu 62 % des Kabinenpersonals an. Am Abend des
7. Oktober 2016 teilte das Management von TUIfly der Belegschaft mit, dass eine Einigung mit dem Betriebsrat erzielt worden sei.
Wegen dieses „wilden Streiks“ wurden zahlreiche Flüge von TUIfly annulliert oder hatten eine Ankunftsverspätung von drei Stunden oder mehr. Da TUIfly der Ansicht war, dass es sich um „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne der Unionsverordnung über Fluggastrechte gehandelt habe, weigerte sie sich jedoch, den betroffenen Fluggästen die darin vorgesehenen Ausgleichszahlungen (je nach Entfernung 250 Euro, 400 Euro oder 600 Euro) zu leisten. Das Amtsgericht Hannover (Deutschland) und das Amtsgericht Düsseldorf (Deutschland), bei denen Klagen auf Leistung dieser Ausgleichszahlungen anhängig sind, fragen den Gerichtshof, ob die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals in Gestalt eines „wilden Streiks“, wie er hier in Rede steht, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fällt, so dass die Fluggesellschaft von ihrer Ausgleichsverpflichtung befreit sein könnte. Die Sicht des Touristikrechts und des Arbeitsrecht können hier weit auseinanderfallen, wie die Entscheidung zeigt.
In der Entscheidung, BGH, Urt. v. 21.08.2012, AZ: X ZR 146/11, hatte der BGH einen Ausgleichsanspruch abgelehnt, weil ein rechtmäßiger Streik einen außergewöhnlichen Umstand darstellt. Dieser Entscheidung lag aber ein gewerkschaftlich organisierter und damit legaler - vom Grundgesetz gedeckter - Streik zugrunde. Nach der Fluggastrechteverordnung sind bei außergewöhnlichen Umständen keine Entschädigungen zu zahlen. Die Fallgruppen des Art. 5 Abs.3 der VO sind aber im Detail und in Grenzbereichen umstritten (s. nur, Staudinger/Keiler (Hrsg.), Fluggastrechte-Verordnung, Erstauflage, 2016, Art. 5, Rdnrn. 6 ff m.w.N., s. insbes. Rn. 26).
In den vom EuGH nunmehr entschiedenen Fällen geht es um einen gewerkschaftlich nicht organisierten "Wilden Streik", sofern man hier den Streikbegriff überhaupt anwendet. Bislang ist überwiegend die Auffassung vertreten worden, dass ein nicht gewerkschaftlich organisierter „wilder Streik" dieses Ausmaßes einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der Fluggastrechteverordnung darstellt, der für die Fluggesellschaft nicht beherrschbar gewesen sei. Der EuGH hat nunmehr einen neuen Weg beschritten.
Nach der neuen Auffassung des EuGH stellt ein „wilder Streik“ des Flugpersonals, der auf die überraschende Ankündigung einer Umstrukturierung folgt, keinen „außergewöhnlichen Umstand“ dar, der es der Fluggesellschaft erlaubt, sich von ihrer Verpflichtung zur Leistung von Ausgleichszahlungen bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen zu befreien, weil die damit verbundenen Risiken (letztlich im Sinne des Betriebsrisikos) sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben und damit im Grundsatz Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft sind.
Der EuGH stellt mit seinem heutigen Urteil klar, dass die spontane Abwesenheit eines erheblichen Teils des Flugpersonals (in Gestalt eines „wilden Streiks“ nach deutscher Rechtsauffassung) nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ fällt, wenn sie auf die überraschende Ankündigung von Umstrukturierungsplänen durch ein ausführendes Luftfahrtunternehmen zurückgeht und einem Aufruf folgt, der nicht von den Arbeitnehmervertretern des Unternehmens verbreitet wird, sondern spontan von den Arbeitnehmern selbst, die sich krank meldeten. Ob und welche Folgen dieses Urteils für das kollektive Arbeitsrecht haben könnte, ist völlig offen, da nicht der Streik legalisiert wird, sondern dem Unternehmen die Konsequenzen seiner eigenen Ankündigungspraxis auferlegt werden.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Verordnung zwei kumulative Bedingungen für die Einstufung eines Vorkommnisses als „außergewöhnlicher Umstand“ vorsieht, und zwar, dass dieses Vorkommnis (1) seiner Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft ist und (2) von dieser nicht tatsächlich beherrschbar ist. Dass es in einem Erwägungsgrund der Verordnung heißt, dass solche Umstände insbesondere bei Streiks eintreten können, bedeutet noch nicht, dass ein Streik unbedingt und automatisch einen Grund für die Befreiung von der Ausgleichspflicht darstellt. Vielmehr ist von Fall zu Fall zu beurteilen, ob die
beiden oben genannten Bedingungen erfüllt sind.
Für den vorliegenden Fall hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese beiden Bedingungen nicht erfüllt sind. Erstens gehören Umstrukturierungen und betriebliche Umorganisationen zu den normalen betriebswirtschaftlichen Maßnahmen von Unternehmen. Somit ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Fluggesellschaften bei der Ausübung ihrer Tätigkeit Meinungsverschiedenheiten oder Konflikten mit ihren Mitarbeitern oder einem Teil von ihnen gegenübersehen können. Daher sind in einer Situation wie der, zu der es Ende September/Anfang Oktober 2016 bei TUIfly kam, die Risiken, die sich aus den mit solchen Maßnahmen einhergehenden sozialen Folgen ergeben, als Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der betreffenden Fluggesellschaft zu betrachten. Der EuGH folgt hier implizit der Betriebsrisikolehre.
Zweitens kann nicht angenommen werden, dass der hier in Rede stehende „wilde Streik“ von TUIfly nicht tatsächlich beherrschbar war, weil er unmittelbar auf eine Entscheidung von TUIfly zurückzuführen ist. Er endete trotz der hohen Abwesenheitsquote nach einer Einigung zwischen TUIfly und dem Betriebsrat vom 7. Oktober 2016.
Der Gerichtshof weist zudem darauf hin, dass der Umstand, dass diese Vorgehensweise der Belegschaft, weil sie nicht offiziell von einer Gewerkschaft initiiert wurde, als „wilder Streik“ im Sinne des einschlägigen deutschen Arbeits- und Tarifrechts einzustufen sein dürfte, für die Auslegung des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ keine Rolle spielt, weil dieser Begriff europarechtlich autonom und ohne Rückgriff auf die (umstrittenen) Kategorien des deutschen, kollektiven Arbeitsrechts auszulegen ist. Indirekt stärkt der EuGH aber auch die Arbeitnehmerrechte.
Der EuGH erteilt insoweit den interessanten Hinweis, dass es für die Annahme „außergewöhnlicher Umstände“ im Sinne der Verordnung über die Fluggastrechte nicht darauf ankommt, ob sie nach dem
einschlägigen nationalen Recht rechtmäßig sind oder nicht, weil dies zur Folge hätte, dass der Anspruch von Fluggästen auf Ausgleichszahlung von den arbeits- und tarifrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats abhinge. Dadurch würden die Ziele dieser Verordnung durch die Anwendung nationalen Rechts beeinträchtigt, dass gerade in diesem Bereich sehr unterschiedlich ist.
Der EuGH verteidigt damit ein hohes Schutzniveau für die Fluggäste sowie harmonisierte Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Luftfahrtunternehmen in der Europäischen Union. Die Praxis wird sich darauf einzustellen haben.
Quelle: Pressemitteilung des EuGH