BGH, PM Nr. 133/2012 - Keine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung für Flugannullierung wegen von der Vereinigung Cockpit angekündigten Pilotenstreiks
Der BGH hat in zwei parallelen Urteilen entschieden, dass die Deutsche Lufthansa als beklagte Fluggesellschaft in beiden Fällen eine pauschale Ausgleichszahlung von je 600 Euro nach der FluggastrechteVO der EU nicht zahlen muss, wenn ein Interkontinentalflug berechtigt annulliert wird. Dies ist nach Art. 5 III EU-FluggastrechteVO dann der Fall, wenn die Annullierung auf "außergewöhnliche Umstände" zurückgeht, die unter Ergreifung aller zumutbaren Maßnahmen praktisch unvermeidbar waren. Ob hierzu auch ein Pilotenstreik zält war umstritten, zumal die beiden Gerichte erster Instanz die Ausgleichszahlung zugebilligt hatten.
Unter den gegebenen Umständen könnte man auf den Gedanken kommen, dass es maßgeblich darauf ankommt, welche konkreten Maßnahmen der Fluggesellschaft zur Streikverhinderung für erforderlich gehalten werden (etwa die Einleitung eines Schlichtungsverfahrens). Damit scheint sich der BGH aber nicht näher auseinanderzusetzen, da er bereits den zulässigen Streikaufruf der Gewerkschaft als hinreichend ansieht. Auch hätte es hier nahegelegen, die Sache dem EuGH vorzulegen, um eine verbindliche Auslegung für die EU herbeizuführen. Der BGH umgeht dies, indem er einen Streikaufruf einem technischen Defekt gleichstellt. Der BGH stellt vielmehr entscheidend darauf ab, ob ein Sonderflugplan eingerichtet wird. Da dies im zweiten Verfahren nicht hinreichend feststand, erfolgte eine Zurückverweisung. Das Urteil ist für die Fluggesellschaften überaus günstig.
Sachverhalt
Die Kläger der beiden Verfahren verlangen Ausgleichszahlungen
nach Art. 7 Abs. 1c, Art. 5 Abs. 1c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004*
(nachfolgend: Fluggastrechteverordnung), weil ihre für Februar 2010 vorgesehenen
Flüge von Miami nach Deutschland von der beklagten Lufthansa AG wegen eines
Streikaufrufs der Vereinigung Cockpit annulliert worden waren. In der Sache X ZR
138/11 wurde der für den 22. Februar 2010 vorgesehene Rückflug nach Düsseldorf
annulliert und die Reisenden wurden auf einen anderen Rückflug umgebucht, mit
dem sie am 25. Februar 2010 in Düsseldorf eintrafen. In der Sache X ZR 146/11
wurde der für den 23. Februar 2010 vorgesehene Rückflug nach Frankfurt am Main
annulliert die Reisenden wurden auf einen Flug am 1. März 2010 umgebucht. In
beiden Fällen geht es nicht um die Unterstützungsleistungen (Mahlzeiten,
Hotelunterbringung), die das Luftverkehrsunternehmen bei Annullierung eines
Flugs anbieten muss, sondern – jedenfalls in der Revisionsinstanz –
ausschließlich um die Frage, ob Lufthansa auch die pauschale Ausgleichsleistung
in Höhe von 600 Euro je Fluggast zu zahlen hat, die die Fluggastrechteverordnung
grundsätzlich vorsieht, wenn ein Interkontinentalflug annulliert wird.
Nach Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung entfällt
diese Verpflichtung, wenn eine Annullierung auf "außergewöhnliche Umstände"
zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle
zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Lufthansa hat geltend gemacht, von
der Pflicht zu Ausgleichszahlungen nach der Verordnung befreit zu sein, weil es
sich bei dem Streik ihrer Piloten um ein außergewöhnliches und für sie
unabwendbares Ereignis gehandelt habe und sie alle zumutbaren Maßnahmen zur
Reduzierung der Zahl der annullierten Flüge ergriffen habe.
Die in erster Instanz zuständigen Amtsgerichte haben Lufthansa
in beiden Fällen zur Leistung der Ausgleichszahlungen verurteilt.
Entscheidungsgründe
Im Verfahren
X ZR 138/11 hat das Landgericht Köln die Berufung zurückgewiesen, weil ein
Streik eigener Mitarbeiter des ausführenden Luftfahrtunternehmens kein
außergewöhnliches Ereignis im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der
Fluggastrechteverordnung darstelle. Dagegen hat im Verfahren X ZR 146/11 das
Landgericht Frankfurt am Main auf die Berufung das erstinstanzliche Urteil
abgeändert und die Klage abgewiesen. Ein Streik, auch derjenige des eigenen
Personals des Luftverkehrsunternehmens stelle ein unabwendbares Ereignis im
Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung dar. Die Lufthansa habe die Annullierung des
Rückfluges auch nicht durch zumutbare Maßnahmen vermeiden können. Insbesondere
sei sie nicht verpflichtet gewesen, andere Piloten zur Aushilfe anzustellen.
Der für das Reise- und Personenbeförderungsrecht zuständige X.
Zivilsenat hat nunmehr entschieden, dass außergewöhnliche Umstände im Sinne des
Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung anzunehmen sein können, wenn der
Flugplan eines Luftverkehrsunternehmens infolge eines Streiks ganz oder zu
wesentlichen Teilen nicht wie geplant durchgeführt werden kann. Dies ergibt sich
aus Wortlaut und Zweck des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung und steht
im Einklang mit der Auslegung dieser Vorschrift durch die bisherige
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH).
Die vom EuGH für
technische Defekte entwickelten Maßstäbe sind auch für andere als Ursache
außergewöhnlicher Umstände in Betracht kommende Vorkommnisse, wie etwa die in
Erwägungsgrund 14 der Fluggastrechteverordnung genannten, heranzuziehen. Auch
insoweit ist maßgeblich, ob die Annullierung auf ungewöhnliche, außerhalb des
Rahmens der normalen Betriebstätigkeit des Luftverkehrsunternehmens liegende und
von ihm nicht zu beherrschende Gegebenheiten zurückgeht. Dabei spielt es bei
einem Streik, der in Erwägungsgrund 14 ausdrücklich als Ursache
außergewöhnlicher Umstände genannt ist, grundsätzlich keine Rolle, ob der
Betrieb des Unternehmens durch eine Tarifauseinandersetzung zwischen Dritten
(z.B. beim Flughafenbetreiber oder einem mit der Sicherheitskontrolle betrauten
Unternehmen) oder dadurch beeinträchtigt wird, dass eigene Mitarbeiter des
Luftverkehrsunternehmens in den Ausstand treten. Ein Streikaufruf einer
Gewerkschaft wirkt – auch soweit er zu einem Ausstand der eigenen Beschäftigten
führt – "von außen" auf das Luftverkehrsunternehmen ein und ist nicht Teil der
normalen Ausübung seiner Tätigkeit, die durch den Streik als Arbeitskampfmittel
gerade gezielt beeinträchtigt oder gar lahm gelegt werden soll.
Eine solche
Situation ist in aller Regel von dem betroffenen Luftverkehrsunternehmen auch
nicht beherrschbar, da die Entscheidung zu streiken, von der Arbeitnehmerseite
im Rahmen der ihr zukommenden Tarifautonomie und damit außerhalb des Betriebs
des ausführenden Luftverkehrsunternehmens getroffen wird.
In den entschiedenen Fällen war dementsprechend die
Streikankündigung der Vereinigung Cockpit geeignet, außergewöhnliche Umstände im
Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung herbeizuführen. Lufthansa
hatte, nachdem zu erwarten war, dass die überwiegende Zahl der angesprochenen
Mitarbeiter dem Streikaufruf nachkommen und somit keine zur Einhaltung des
gesamten Flugplans ausreichende Anzahl von Piloten zur Verfügung stehen würde,
Anlass, den Flugplan so zu reorganisieren, dass zum einen die Beeinträchtigungen
der Fluggäste durch den Streik so gering wie unter den gegebenen Umständen
möglich ausfallen würden und sie zum anderen in der Lage sein würde, nach
Beendigung des Streiks sobald wie möglich zum Normalbetrieb zurückzukehren.
Schöpft ein Luftverkehrsunternehmen unter Einhaltung dieser Anforderungen die
ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen in dem gebotenen Umfang aus, kann die
Nichtdurchführung eines einzelnen Flugs in der Regel nicht allein deshalb als
vermeidbar angesehen werden, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert
werden können.
Danach hat der Bundesgerichtshof im Verfahren X ZR 146/11 die
Revision der Kläger zurückgewiesen, weil das Landgericht Frankfurt festgestellt
hat, dass Lufthansa mit einem Sonderflugplan geeignete und zumutbare Maßnahmen
ergriffen hatte, um Annullierungen infolge des Streiks auf das unvermeidbare Maß
zu beschränken, und daher rechtsfehlerfrei angenommen hat, dass die Absage des
Fluges der Kläger nicht zu vermeiden war. Im Verfahren X ZR 138/11 konnte der
Bundesgerichtshof dagegen nicht abschließend über die geltend gemachten
Ausgleichsansprüche entscheiden, da vom Landgericht Köln Feststellungen zu den
von Lufthansa ergriffenen Maßnahmen noch zu treffen sind.
Urteil vom 21. August 2012 – X ZR 138/11
AG Köln - Urteil vom 25. Oktober 2010 – 142 C 153/10
LG Köln - Urteil vom 27. Oktober 2011 – 6 S 282/10
Urteil vom 21. August 2012 – X ZR 146/11
AG Frankfurt am Main - Urteil vom 24. März 2011 – 32 C
2262/10-41
LG Frankfurt am Main - Urteil vom 8. November 2011 –
2-24 S 80/11
Karlsruhe, den 21. Aug. 2012
Quelle: Pressemitteilung des BGH
Rechtsquellen:
Art. 7 der Verordnung: "Ausgleichsanspruch"
Rechtsquellen:
Art. 7 der Verordnung: "Ausgleichsanspruch"
(1) Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die
Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:
c) 600 EUR bei allen nicht unter Buchstabe a) oder b)
fallenden Flügen.
Art. 5 der Verordnung: "Annullierung"
(1) Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen
Fluggästen …
c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf
Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …
(3) Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen ist nicht
verpflichtet, Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen
kann, dass die Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich
auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen
ergriffen worden wären.
Erwägungsgrund 14 der Verordnung:
Wie nach dem Übereinkommen von Montreal sollten die
Verpflichtungen für ausführende Luftfahrtunternehmen in den Fällen beschränkt
oder ausgeschlossen sein, in denen ein Vorkommnis auf außergewöhnliche Umstände
zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle
zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Solche Umstände können insbesondere
bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht
zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten
Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens
beeinträchtigenden Streiks eintreten.
Pressestelle des Bundesgerichtshofs
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