Donnerstag, 24. November 2011

EuGH lehnt allgemeine Überwachungspflichten für Internet Access Provider ab


EuGH - PRESSEMITTEILUNG Nr. 126/11
Luxemburg, den 24. November 2011 - Urteil in der Rechtssache C-70/10
Scarlet Extended SA / Société belge des auteurs, compositeurs et éditeurs SCRL (SABAM)

Das Urteil ist das vorläufige Ende des Begehrens der Verwertungsgesellschaften von Internet Access Providern verlangen zu wollen, dass diese die Art und Weise der Nutzung der Telekommunikation durch ihre Nutzer zu filtern haben, um Rechtsverletzungen  - etwa durch Nutzung von peer-to-peer-Technologie - zu verhindern. Peer - to - Peer - Technologie ist aber nicht per se rechtswidrig. Eine solche allgemeine Überwachungspflicht ist mit europäischem Sekundär - und Primärrecht nicht vereinbar.

Der vorliegende Fall richtet sich im Ausgangspunkt nach belgischem Recht. Nachdem eine den Anträgenden stattgebende einstweilige Verfügung ergangen war, legte das Berufungsgericht die hiermit verbundenen europarechtlichen Fragen dem EuGH vor, der eine umfassende Interessenabwägung vorgenommen hat. Ganz unabhängig von der Frage der Kosten (und eines etwaigen Kostenerstattungsanspruchs der Provider gegenüber den Verwertungsgesellschaften) hinsichtlich der Implementation einer derartigen - nicht fehlerfrei handhabbaren - Software scheitert ein solcher Anspruch bereits daran, dass die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr eine solche allgemeine Überwachungspflicht bewusst verneint und damit entgegenstehende nationale Regelungen mit europäischem Sekundärrecht nicht vereinbar sind.

Der EuGH belässt es aber nicht dabei, sondern lehnt einen solchen Anspruch auch unter primärrechtlichen Aspekten als unzulässigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit der IAP ab, was etwaigen Änderungswünschen de lege ferenda Grenzen auferlegt, die zudem mit den seitens des EuGH geäußerten datenschutzrechtlichen Aspekten unter primärrechtlichen Vorzeichen noch verstärkt werden. Wie der EuGH sehr treffend ausführt, würden die IAP in solchen Fällen als Datensammelstellen für personenbezogene Daten zugunsten der Rechteinhaber fungieren. Besonders interessant - gerade auch für die deutsche Diskussion des Themas - ist in diesem Zusammenhang, dass der EuGH IP - Adressen zutreffend als personenbezogene Daten qualifiziert und diese Vorgehensweise auch dazu führen kann, dass Personen betroffen werden, die zwar solche Technologien nutzen, aber keine Rechtsverletzungen begangen haben. Die Entscheidung schafft deutliche Klarheit und ist sehr zu begrüßen.

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Das Unionsrecht steht einer von einem nationalen Gericht erlassenen Anordnung entgegen, einem Anbieter von Internetzugangsdiensten die Einrichtung eines Systems der Filterung aufzugeben, um einem unzulässigen Herunterladen von Dateien vorzubeugen

Eine solche Anordnung beachtet weder das Verbot, solchen Anbietern eine allgemeine Überwachungspflicht aufzuerlegen, noch das Erfordernis, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen einerseits dem Recht am geistigen Eigentum und andererseits der unternehmerischen Freiheit, dem Recht auf den Schutz personenbezogener Daten und dem Recht auf freien Empfang oder freie Sendung der Informationen zu gewährleisten.

Diese Rechtssache beruht auf einem Rechtsstreit zwischen der Scarlet Extended SA, einem Anbieter von Internetzugangsdiensten, und SABAM, einer belgischen Verwertungsgesellschaft, deren Aufgabe es ist, die Verwendung von Werken der Musik von Autoren, Komponisten und Herausgebern zu genehmigen.
SABAM stellte im Jahr 2004 fest, dass Internetnutzer, die die Dienste von Scarlet in Anspruch nähmen, über das Internet – ohne Genehmigung und ohne Gebühren zu entrichten – zu ihrem Repertoire gehörende Werke über „Peer-to-Peer“-Netze (ein offenes, unabhängiges, dezentralisiertes und mit hochentwickelten Such- und Downloadfunktionen ausgestattetes Hilfsmittel zum Austausch von Inhalten) herunterlüden.

Auf Antrag von SABAM gab der Präsident des Tribunal de première instance de Bruxelles (Belgien) Scarlet als Anbieter von Internetzugangsdiensten unter Androhung eines Zwangsgelds auf, diese Urheberrechtsverletzungen abzustellen, indem sie es ihren Kunden unmöglich mache, Dateien, die ein Werk der Musik aus dem Repertoire von SABAM enthielten, in irgendeiner Form mit Hilfe eines „Peer-to-Peer“-Programms zu senden oder zu empfangen.

Scarlet legte bei der Cour d’appel de Bruxelles Berufung ein und machte geltend, dass die Anordnung nicht unionsrechtskonform sei, weil sie ihr de facto eine allgemeine Pflicht zur Überwachung der Kommunikationen in ihrem Netz auferlege, was mit der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr und den Grundrechten unvereinbar sei. Vor diesem Hintergrund fragt die Cour d’appel den Gerichtshof, ob die Mitgliedstaaten aufgrund des Unionsrechts dem nationalen Richter erlauben können, einem Anbieter von Internetzugangsdiensten aufzugeben, generell und präventiv allein auf seine eigenen Kosten und zeitlich unbegrenzt ein System der Filterung der elektronischen Kommunikationen einzurichten, um ein unzulässiges Herunterladen von Dateien zu identifizieren.

In seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass Inhaber von Rechten des geistigen Eigentums gerichtliche Anordnungen gegen Vermittler wie die Anbieter von Internetzugangsdiensten beantragen können, deren Dienste von einem Dritten zur Verletzung ihrer Rechte genutzt werden. Die Modalitäten der Anordnungen sind Gegenstand des nationalen Rechts. Diese nationalen Regelungen müssen jedoch die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (ABl. L 178, S. 1) Beschränkungen wie u. a. die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr beachten, wonach nationale Stellen keine Maßnahmen erlassen dürfen, die einen Anbieter von Internetzugangsdiensten verpflichten würden, die von ihm in seinem Netz übermittelten Informationen allgemein zu überwachen.

Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass die fragliche Anordnung Scarlet verpflichten würde, eine aktive Überwachung sämtlicher Daten aller ihrer Kunden vorzunehmen, um jeder künftigen Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums vorzubeugen. Daraus folgt, dass die Anordnung zu einer allgemeinen Überwachung verpflichten würde, die mit der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr unvereinbar ist. 
Außerdem würde eine solche Anordnung nicht die anwendbaren Grundrechte beachten.

Zwar ist der Schutz des Rechts am geistigen Eigentum in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Gleichwohl ergibt sich weder aus der Charta selbst noch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass dieses Recht schrankenlos und sein Schutz daher bedingungslos zu gewährleisten wäre.
Im vorliegenden Fall bedeutet die Einrichtung eines Filtersystems, dass im Interesse der Inhaber von Urheberrechten sämtliche elektronischen Kommunikationen im Netz des fraglichen Anbieters von Internetzugangsdiensten überwacht werden, wobei diese Überwachung zudem zeitlich unbegrenzt ist. 

Deshalb würde eine solche Anordnung zu einer qualifizierten Beeinträchtigung der unternehmerischen Freiheit von Scarlet führen, da sie sie verpflichten würde, ein kompliziertes, kostspieliges, auf Dauer angelegtes und allein auf ihre Kosten betriebenes Informatiksystem einzurichten.

Darüber hinaus würden sich die Wirkungen dieser Anordnung nicht auf Scarlet beschränken, weil das Filtersystem auch die Grundrechte ihrer Kunden beeinträchtigen kann, nämlich ihre durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union geschützten Rechte auf den Schutz personenbezogener Daten und auf freien Empfang oder freie Sendung von Informationen. Zum einen steht nämlich fest, dass diese Anordnung eine systematische Prüfung aller Inhalte sowie die Sammlung und Identifizierung der IP-Adressen der Nutzer bedeuten würde, die die Sendung unzulässiger Inhalte in diesem Netz veranlasst haben, wobei es sich bei diesen Adressen um personenbezogene Daten handelt. Zum anderen könnte diese Anordnung die Informationsfreiheit beeinträchtigen, weil dieses System möglicherweise nicht hinreichend zwischen einem unzulässigen Inhalt und einem zulässigen Inhalt unterscheiden kann, so dass sein Einsatz zur Sperrung von Kommunikationen mit zulässigem Inhalt führen könnte.

Daher stellt der Gerichtshof fest, dass das nationale Gericht, erließe es die Anordnung, mit der Scarlet zur Einrichtung eines solchen Filtersystems verpflichtet würde, nicht das Erfordernis beachten würde, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen einerseits dem Recht am geistigen Eigentum und andererseits der unternehmerischen Freiheit, dem Recht auf den Schutz personenbezogener Daten und dem Recht auf freien Empfang oder freie Sendung der Informationen zu gewährleisten.

Der Gerichtshof antwortet folglich, dass das Unionsrecht einer Anordnung an einen Anbieter von Internetzugangsdiensten entgegensteht, ein System der Filterung aller seine Dienste durchlaufenden elektronischen Kommunikationen, das unterschiedslos auf alle seine Kunden anwendbar ist, präventiv, auf ausschließlich seine eigenen Kosten und zeitlich unbegrenzt einzurichten.

Der Volltext des Urteils wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht
www.curia.eu

Excellent article about this decision in English via Technollama:
http://www.technollama.co.uk/european-court-of-justice-rules-against-indiscriminate-intermediary-filtering

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