Mittwoch, 17. Februar 2016

EuGH: Erneutes Urteil zum dt. Glücksspielstaatsvertrag

Der EuGH hat - nachdem er sich erst kürzlich mit dem italienischen Glücksspielrecht beschäftigen musste (EuGH,  Urteil v. 28.01.2016 in der Rechtssache C-375/14 - Rosanna Laezza/Italien) - erneut ein Urteil zum deutschen Glücksspielstaatsvertrag gefällt, dass sehr interesssant aber auch schwierig ist. 

Nicht neu ist dabei die Einsicht, dass das Unionsrecht der Ahndung einer ohne Erlaubnis erfolgten grenzüberschreitenden Vermittlung von Sportwetten in Deutschland entgegenstehen kann. Dies war bereits Gegenstand diverser Urteile zu früheren Rechtslagen in Deutschland. Völlig innovativ ist aber der Ansatz, das dies insbesondere dann gilt, wenn das von den deutschen Gerichten für unionsrechtswidrig befundene vormalige Staatsmonopol faktisch fortbesteht. Damit prüft der EuGH nicht lediglich den normativen Rechtsbestand, sondern auch die tatsächlich bestehende Rechtswirklichkeit und legt insoweit die Differenzen offen. Es kommt durchaus vor, dass die Rechtswirklichkeit vom normativen Regelungsgehalt ganz oder teilweise abweicht, auch wenn dies tunlichst vermieden werden sollte.  

Im Ausgangsfall aus Bayern hatte die Staatsanwaltschaft Frau Sebat Ince in einem Strafverfahren vor dem Amtsgericht Sonthofen zur Last gelegt, sie habe über einen in einer „Sportsbar“ in Bayern aufgestellten Wettautomaten Sportwetten ohne die erforderliche behördliche Erlaubnis vermittelt. Technisch ist das ein sehr gängiges Verfahren. Der Ausgangsfall war daher erneut eine Strafsache wegen illegalen Glücksspiels nach § 285 StGB. Die Tatvorwürfe betreffen zum einen das erste Halbjahr 2012 und das zweite Halbjahr 2012, mit durchaus unterschiedlichen Rechtslagen für Deutschland, zu denen der EuGH dezidiert Stellung nimmt. 

Der betreffende Wettautomat vermittelte Glückspiele einer österreichische Gesellschaft (die Rechtslage in Österreich ist diesbezüglich anders als in Deutschland), in deren Auftrag und für deren Rechnung die Wetten angenommen wurden. Diese Gesellschaft besaß aber nur in Österreich eine Lizenz für die Veranstaltung für Sportwetten, nicht aber in Deutschland. Die grenzüberschreitende Anerkennung von Konzessionen ist ein erhebliches Problem ohne zufriedenstellende Lösungsansätze. 

Im ersten Halbjahr 2012 unterlagen die Veranstaltung und die Vermittlung von Sportwetten in Deutschland einem staatlichen Monopol noch den Regeln des Glücksspielstaatsvertrags von 2008 ( Staatsvertrag zum Glücksspielwesen zwischen den deutschen Bundesländern, in Kraft vom 1. Januar 2008 bis 31. Dezember 2011. Die Vorschriften dieses Vertrags in allen Bundesländern mit Ausnahme von SchleswigHolstein bis zum Inkrafttreten eines neuen Staatsvertrags fort). Der seinerzeit geltende Staatsvertrag untersagte die Veranstaltung und die Vermittlung von Sportwetten ohne Erlaubnis und schloss die Erteilung von Erlaubnissen an private Wirtschaftsteilnehmer aus. Dieser Glücksspielstaatsvertrag war europarechtlich sehr umstritten und beruhte auf einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2006 (BVerfGE 115, 276 - Sportwetten). 

Das Amtsgerichts Sonthofen ging in seiner Entscheidung völlig zutreffend davon aus, dass nach den Urteilen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Stoß u. a. sowie Carmen Media Group alle deutschen Gerichte, die darüber zu befinden hatten, ob dieses Monopol mit dem Unionsrecht in Einklang stand, zu dem Ergebnis kamen, dass dies nicht der Fall war (Urteile des Gerichtshofs vom 8. September 2010, Stoß u. a. (C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07) sowie Carmen Media Group (C-46/08) Mit diesen Urteilen entschied der Gerichtshof, dass die deutschen Gerichte berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung haben konnten, dass mit dem besagten Monopol das Ziel der Bekämpfung der mit Glücksspielen verbundenen Gefahren nicht in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird. 

Allerdings wurden aus diesem Verdikt sehr unterschiedliche Konsequenzen gezogen, was die Rechtswidrigkeit des Monopols anging. Uneinigkeit bestand unter der Geltung des Vertrages in der Fassung von 2008 insbesondere hinsichtlich der Frage, ob auf die privaten Wirtschaftsteilnehmer ein fiktives Erlaubnisverfahren dergestalt anzuwenden ist, dass in jedem Einzelfall geprüft wird, ob diese Wirtschaftsteilnehmer die für die staatlichen Veranstalter geltenden Voraussetzungen erfüllen. Nach den Angaben des Amtsgerichts Sonthofen hat kein privater Wirtschaftsteilnehmer eine Erlaubnis im Anschluss an ein solches Erlaubnisverfahren jemals bekommen. 

Bezüglich des Tatzeitraums vom zweiten Halbjahr 2012 wurden die Veranstaltung und die Vermittlung von Sportwetten nunmehr vom Glücksspieländerungsstaatsvertrag 2012 geregelt ( Staatsvertrag zwischen den Bundesländern, in Bayern am 1. Juli 2012 in Kraft getreten). Dieser Staatsvertrag 2012 ging in §§ 4 a ff zu einem Konzessionsmodell über, dessen Handhabung überaus schwierig ist. Unter anderem enthält dieser Vertrag eine Experimentierklausel nach der private Wirtschaftsteilnehmer während eines Zeitraums von sieben Jahren ab seinem Inkrafttreten eine Konzession für die Veranstaltung von Sportwetten erhalten können, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die durchaus schwierig zu erfüllen sind.

Nur im Falle der Erteilung einer solchen Konzession (die mit Auflagen versehen werden kann), können Vermittler eine Erlaubnis erhalten, für einen Veranstalter Wetten anzunehmen. Für bereits tätige staatliche Veranstalter und ihre Vermittler gilt die Konzessionspflicht erst ein Jahr nach Erteilung der ersten Konzession. Zur Zeit der Tathandlungen und bis zur mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof am 10. Juni 2015 war jedoch keine der 20 zur Verfügung stehenden Konzessionen vergeben, so dass keinem privaten Wirtschaftsteilnehmer die Veranstaltung oder die Annahme von Sportwetten in Deutschland erlaubt war. Infolgedessen sind die §§ 4 - a - e des Glückspielstaatsvertrages 2012 faktisch leergelaufen. Sie hatten praktisch keine Bedeutung erlangt (s. insoweit auch Streinz/Liesching/Hambach, Glücks-und Gewinnspielrecht in den Medien, 2014,vor §§ 4 a - 3 Glücksspielstaatsvertrag; Dietlein/Hecker/Ruttig, Glücksspielrecht, 2013, Kommentierungen zu §§ 4 a - 3). .  

Daraus zog das Amtsgericht Sonthofen die Schlussfolgerung, dass das von den deutschen Gerichten für unionsrechtswidrig befundene vormalige Staatsmonopol faktisch fortbesteht. Eine durchaus naheliegende Annahme. Das Amtsgericht wollte sich indessen verständlicherweise absichern und hat dem EuGH Fragen zur Vereinbarkeit mit dem Europarecht vorgelegt. In diesem Zusammenhang befragt das Amtsgericht Sonthofen den Gerichtshof zu den Konsequenzen, die Verwaltung und Justiz zum einen aus der Unionsrechtswidrigkeit des vormaligen Staatsmonopols während der Phase der Ausarbeitung der Reform und zum anderen aus dem faktischen Fortbestand dieses Monopols nach der Reform von 2012 ziehen müssen. Die Antwort des EuGH wird im deutschen Glücksspielrecht erneut zu Konsequenzen führen. 

Die Antworten des EuGH sind unterschiedlich für den Staatsvertrag 2008 und 2012. Hinsichtlich Glücksspielstaatsvertrags 2008 geht der EuGH davon aus, dass die Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats, wenn die Erlaubnispflicht für die Veranstaltung oder die Vermittlung von Sportwetten im Rahmen eines von den nationalen Gerichten für unionsrechtswidrig befundenen staatlichen Monopols besteht, durch die Dienstleistungsfreiheit daran gehindert sind, die ohne Erlaubnis erfolgte Vermittlung von Sportwetten durch einen privaten Wirtschaftsteilnehmer an einen anderen privaten Wirtschaftsteilnehmer, der über keine Erlaubnis für die Veranstaltung von Sportwetten in diesem Mitgliedstaat verfügt, sondern nur Inhaber einer Lizenz in einem anderen Mitgliedstaat ist, zu ahnden. Dies führt für diesen Zeitraum wahrscheinlich zur Straffreiheit. 

Selbst wenn ein privater Wirtschaftsteilnehmer theoretisch eine Erlaubnis für die Veranstaltung oder die Vermittlung von Sportwetten erhalten kann, steht die Dienstleistungsfreiheit einer solchen Ahndung entgegen, soweit die Kenntnis von dem Verfahren zur Erteilung einer Erlaubnis nicht sichergestellt ist und das von den nationalen Gerichten für unionsrechtswidrig befundene staatliche Sportwettenmonopol trotz der Annahme eines solchen Verfahrens fortbesteht. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass das fiktive Erlaubnisverfahren die Unionsrechtswidrigkeit des Staatsmonopols, wie sie von den nationalen Gerichten festgestellt wurde, nicht behoben hat.

Außerdem hat der Umstand, dass die Vorschriften des Glücksspielstaatsvertrags 2008 trotz seines Auslaufens Ende 2011 in Bayern im ersten Halbjahr 2012 nur aufgrund eines dortigen Landesgesetzes (Bayerisches Gesetz zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland vom 20. Dezember 2007 (GVBl S. 922, BayRS 2187-3-I) immer noch anwendbar waren, zur Folge, dass darin enthaltene technische Vorschriften für diesen Zeitraum Einzelnen nicht entgegengehalten werden können. Im Unterschied zum Glücksspielstaatsvertrag selbst wurde dieses Gesetz  der Kommission nämlich nie notifiziert (ebenso wie die entsprechenden Gesetze der anderen Länder). 

Nach einer Unionsrichtlinie (Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. L 204, S. 37) in der durch die Richtlinie 98/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 (ABl. L 217, S. 18) geänderten Fassung) muss der Kommission aber jeder Entwurf eines Gesetzes mit technischen Vorschriften, die eine „Dienstleistung der Informationsgesellschaft“ betreffen, notifiziert werden. Diese Notifizierungspflicht galt nicht nur für den Glücksspielstaatsvertrag, sondern auch für das Gesetz, das ihn als Landesrecht aufrechterhielt. 

Das Amtsgericht Sonthofen hat daher nunmehr zu prüfen, ob der Angeklagte ein Verstoß gegen technische Vorschriften zur Last gelegt wird, die mit dem Glücksspielstaatsvertrag 2008 aufgestellt wurden (wie das Verbot des Anbietens von Glücksspielen im Internet, die Beschränkungen der Möglichkeit, Sportwetten über Telekommunikationsmittel anzubieten, oder das Verbot der Werbung für Glücksspiele im Internet oder über Telekommunikationsmittel). 

Angesichts der geltenden Rechtslage ist die Antwort der EuGH in Bezug auf den Glücksspielstaatsvertrag 2012 von besonderem Interesse. Der EuGH statuiert insoweit, dass die Dienstleistungsfreiheit einen Mitgliedstaat daran hindert, die ohne Erlaubnis erfolgte Vermittlung von Sportwetten in seinem Hoheitsgebiet an einen Wirtschaftsteilnehmer zu ahnden, der in einem anderen Mitgliedstaat eine Lizenz innehat, sofern die Erteilung einer Erlaubnis für die Veranstaltung von Sportwetten daran geknüpft ist, dass der Wirtschaftsteilnehmer eine Konzession nach einem Verfahren wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erhält. Letztlich bedeutet dies, dass die §§ 4 a - e Glücksspielstaatsvertrag europarechtswidrig sind und grundsätzlich ein grenzüberschreitendes Annerkennungsverfahren einzuführen ist. Insoweit muss aber der Volltext des Urteils genau analysiert werden. 

Stellt das Amtsgericht Sonthofen fest, dass in diesem Verfahren der Gleichbehandlungsgrundsatz, das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und das daraus folgende Transparenzgebot nicht hinreichend beachtet worden sind und wird die unionsrechtliche Verwerfung eines staatlichen Monopols für Sportwetten nicht beachtet, indem es faktisch unbeschadet der Rechtslage weiter angewandt wird, ist erneut ein Verstoß gegen das Unionsrecht anzunehmen. 

Der Gerichtshof stellt insoweit überzeugend fest, dass die Experimentierklausel in §§ 4 a - e Glückspielstaatsvertrag 2012 die Unvereinbarkeit des vormaligen Staatsmonopols mit dem freien Dienstleistungsverkehr nicht behoben hat, soweit die alte Regelung unter Berücksichtigung dessen, dass keine Konzessionen erteilt wurden und dass die staatlichen Veranstalter weiterhin Sportwetten veranstalten können, trotz des Inkrafttretens der Reform von 2012 in der Praxis weiter Bestand hat.

Daraus den Schluss zu ziehen, dass die Regelungen europarechtswidrig sind, liegt zwar nahe, aber angesichts des mit zahlreichen Bedingungen verknüpften Verdikts des EuGH könnte eine Änderung der Genehmigungspraxis unter Beachtung der Vorgaben des EuGH noch hinreichen. In der Strafsache selbst deutet viel auf Freispruch. Angesichts des Urteilsinhaltes könnten sich erhebliche Änderungen bei der Experimentierklauseln in naher Zukunft ergeben.